Die Anderen


Im Pétanque beschäftigen wir uns überwiegend mit unseren Fähigkeiten, deren Mehrung wir erstreben. Zu wenig interessieren uns die Bedingungen, unter denen sie gedeihen. Erheblich werden diese durch die Anderen gestaltet, die uns mit ihrem Verhalten zu stören oder zu beflügeln vermögen. Art und Intensität des Umganges miteinander sind zweifellos geeignet, das Spielvermögen zu beeinflussen. Das uns mit den Anderen verbindende Beziehungsgeflecht zu durchschauen, Klarheit darüber zu gewinnen, ob es uns einengt oder trägt, gehört ebenso zur Vorbereitung, wie das Einüben von Spieltechniken. Um uns Handlungsräume zu verschaffen, müssen wir die Anderen ein wenig auf Abstand halten.

Ein Charakteristikum des Pétanque ist der stete Wechsel von Mitspielern und Gegnern. Häufig ändern sich Konstellationen mehrfach pro Spieltag; zu Turnieren fährt man mit wechselnden Partnern und hat es im Laufe des Wettbewerbes mit einer Vielzahl von Kontrahenten zu tun. Immer wieder muss es so zu Begegnungen von Akteuren kommen, deren Verhaltensgewohnheiten nicht zueinander passen.

 

So sind etwa manche Spieler eher quecksilbrige Naturen und zeigen einen unerschöpflichen Bewegungsdrang, andere sind redselig; versuchen sich als Kommentatoren des Geschehens; wirken in ihrem übermäßigen Ernst muffig oder arrogant; agieren zu träge oder übertrieben hektisch; sind unaufmerksam; überzogen fürsorglich; zeigen übersteigerten Ehrgeiz oder stören auf vielerlei andere Weise.

 

Zwar wird vieles formell durch Regeln unterbunden oder lässt sich durch freundliche Hinweise abstellen[1], die Erfahrung zeigt jedoch, dass sich die Natur des Menschen stets Bahn bricht. In Spielen gibt sich auf Dauer fast jeder so, wie er ist – nicht immer zur Freude oder zum Gefallen anderer Beteiligter.

Kritisieren bedeutet dann meist, einen Teil der kostbaren Konzentration aufzugeben, innerlich aufzuwallen, sich emotional zu engagieren – mithin also Gefahr zu laufen, hinfort schlechter zu spielen. Alternativ kann eine Haltung angestrebt werden, die sich als „professionelle Toleranz“ bezeichnen lässt: Der erfahrene und abgeklärte Spieler weiß, dass er unweigerlich auf die oben skizzierten Widrigkeiten stoßen wird. Er nimmt sich vor, diese einfach als Teil der Situation zu akzeptieren, gerade so, wie er auch einen besonders schwierigen Boden für die jeweilige Partie klaglos hinzunehmen hat. Das Tolerieren der eigentlich störenden Einflüsse gelingt, indem der Spieler Ressourcen in sich entdeckt, und Methoden findet, diesen zu begegnen. Anstatt also Mal um Mal sich zu ärgern und den sinnlosen Versuch zu unternehmen, die Anderen zu erziehen, was nur dazu führen kann, dass Gram und Groll sich unserer bemächtigen, bemüht man sich, Störendes auszublenden. Langfristig ergibt sich so ein Zuwachs an Autonomie und Souveränität.

Der Pferdefuß, die Mitspieler solcherweise zu den situativen Gegebenheiten zu rechnen, sei nicht verschwiegen, verhält es sich doch mit „professioneller Toleranz“ ebenso wie mit Toleranz ganz allgemein, von der Goethe sagte:

"Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein:

Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen."

Johann Wolfgang von Goethe [2]

 

Das kann nur bedeuten, dass für die kurze Weile einer Pétanquepartie ein Zusammenspiel immer möglich sein muss. Auf Dauer wird man nicht umhinkommen, Gegensätze zu glätten. Längerfristiges Engagement, zumal eine dauerhafte Spielpartnerschaft, bedarf freilich noch mehr des Guten und kann bildhaft etwa so beschrieben werden:

Zahnräder, einander ergänzend ineinandergreifend, ein jedes niemals des anderen Raum beanspruchend; ohne Reibung, in nie gehemmtem Lauf fortfahrend, dem lang bewährten Mechanismus blind vertrauend.

Beanspruchen uns die Anderen zuweilen in zu hohem Maße, so unterliegen gelegentlich wir selbst Trugschlüssen, indem wir ihnen einen falschen Stellenwert beimessen. Das Gewicht der Anderen kann dabei zu groß aber auch zu gering sein[3]. Beides ist freilich von Übel.

Ist es zu groß, so hat ein Spieler den Eindruck, er müsse hohen Anforderungen seiner Mitspieler irgendwie genügen, was selten dem Spielvermögen förderlich ist. Meist existieren diese Anforderungen jedoch allein in der Vorstellung des Betreffenden selbst. Mitspieler haben überwiegend ein realistisches Bild von dem, was ein Spieler zu leisten in der Lage ist. Erfahrene Akteure werden von ihren Partnern nicht mehr verlangen, als sich redlich zu bemühen, denn sie wissen, dass nur auf dieser Basis eines jeden Potenzial gänzlich abgerufen werden kann.

Ist es zu gering, fühlt sich ein Spieler grundsätzlich allein für alles verantwortlich, was sich ereignen mag. Auch wenn im Triplette objektiv nur zwei Kugeln pro Spieler geführt werden, so sind es dann stets die eigenen, die vermeintlich nicht genügen. Es versteht sich, dass solch Denken aufreibt und das Spielvermögen beeinträchtigt.

Im Pétanque spielen wir niemals für die Anderen, aber immerhin doch mit ihnen. Sofern sie es zulassen, werden wir unser Bestes geben. Wir sind gut beraten, einander und auch uns selbst nicht mit Ansprüchen zu belasten. Die Spielregeln, so überflüssig sie gelegentlich auch erscheinen mögen, bewahren alle davor, sich Freiräume stets aufs Neue mühsam verschaffen zu müssen. Spielkunst ist ein zartes Pflänzchen, das eingehegt besser gedeiht. Wird es nicht zertrampelt und hat Raum sich zu entfalten, treibt es üppig Blüten.

 

Thorsten


[1] Da solche Hinweise oder Belehrungen von kaum jemandem wirklich geschätzt werden, bietet sich ein indirektes Vorgehen an: Mit dem eigentlichen Adressaten der Botschaft bespreche man, sobald ein anderer Spieler in ähnlicher Weise „über die Stränge schlägt“, das Für und Wider solchen Betragens, auf das es diesem gelinge, vom Speziellen auf das Allgemeine zu schließen. 

[2] Quelle: Goethe, Maximen und Reflexionen. Aphorismen und Aufzeichnungen.

[3] Das Phänomen, den vermeintlichen Anforderungen der Anderen zu viel Beachtung zu schenken, zeigt sich naturgemäß bei Neulingen die glauben, einem "Lehrer" beweisen zu müssen, das Empfohlene werde nunmehr beherrscht; oder die mit versiertem Spiel untermauern wollen, endlich ganz dazuzugehören. Es ist schade, dass dabei das einzige Pfund verloren geht, mit dem sie wirklich wuchern könnten - die unbedarfte Lockerheit.

 

Anmerkung: Der Glaube, für alles allein verantwortlich zu sein, wird in der Psychologie als "Personalisierung" angesprochen und zu den kognitiven Verzerrungen gerechnet:

 https://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Verzerrung_(klinische_Psychologie)


Dieser Text wird ergänzt durch die Artikel: "Konventionelle Höflichkeit" und "Rechtfertigungen"


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