Überraschungen


"Das älteste und stärkste Gefühl ist Angst,

die älteste und stärkste Form der Angst, ist die Angst vor dem Unbekannten" 

                                                                               H. P. Lovecraft 


Welche Gefahren mögen am Wegesrand lauern?
Welche Gefahren mögen am Wegesrand lauern?

Die Angst vor dem Unbekannten hat H. P. Lovecraft, der Autor unheimlicher Erzählungen, meisterlich eingesetzt. Durch bloßes Andeuten überlässt er es dem Leser, sich den Schrecken auszumalen. Das, worauf wir nicht vorbereitet sind, kann in spezieller Weise Macht über uns erlangen. Mehr noch als eine konkrete Gefahr, vermag es uns zu lähmen und zu erschüttern.

 

In Spielen kann nicht fehlgehen, wer der Überraschung[1] des Gegners einen eigenständigen Wert beimisst; sie gar als prinzipiell nützlich begreift. Überraschende Aktionen zwingen Kontrahenten dazu, mehr Vorsicht walten zu lassen und künftige Bemühungen hinfort stärker aufzufächern, wodurch sie über den unmittelbaren Effekt hinaus Wirkung erzielen.

Ein überraschter Gegner unterliegt nicht allein einer Fehlkalkulation, die darin besteht, dass er das Geschehene nicht hat kommen sehen, wodurch seine Kräfte nicht optimal wirken. Vielmehr ist ihm Grund gegeben, an sich zu zweifeln, ist doch der Urteilskraft, die zu dem Fehler führte, nicht länger uneingeschränkt zu trauen. Es sind Anpassungen vorzunehmen (im Denken und Handeln), Erklärungen zu geben (sich selbst und anderen). So versickert durch vielerlei Lecks ein kostbares Gut – die Selbstsicherheit.

Das hatte der Militärtheoretiker Clausewitz im Sinn, als er über die Überraschung schrieb:
… aber sie ist außerdem auch als ein selbständiges Prinzip anzusehen, nämlich durch ihre geistige Wirkung. Wo sie in einem hohen Grade gelingt, sind Verwirrung, gebrochener Mut beim Gegner die Folgen, und wie diese den Erfolg multiplizieren, davon gibt es große und kleine Beispiele genug. [2]

Im Pétanque zählt die Frage, ob nach einem bestimmten Schema gehandelt werden soll, oder ob flexibles Handeln von Vorteil sei, zu jenen Kontroversen, die letztlich nicht aufzulösen sind, haben doch beide Verfahren ihre Vor- und Nachteile. (Zum Phänomen solcher Antinomien existiert ein eigener Artikel. Siehe hierzu: Gegensätze)


Schematisches Vorgehen bewirkt, dass alle Mannschaftsmitglieder an einem Strang ziehen. Jeder weiß, was nächstens geschehen wird und stellt sich darauf ein. Aufwendige Kommunikation kann unterbleiben. Allerdings gilt das auch für den Gegner, der ebenfalls seine Schlüsse zieht. Starres Vorgehen spielt diesem in die Karten, sofern er in der Lage ist, eine passende Antwort zu geben.

Solches droht bei flexiblem Handeln nicht. Das Einstreuen unorthodoxer Spielzüge macht hingegen Absprachen erforderlich bzw. erfordert eine regelrechte Führung, die von einem Spieler ausgeübt werden muss. Das Empfinden, sich dann nach Fehlschlägen voreinander rechtfertigen zu müssen, stellt eine Bürde dar, die bei schematischem Vorgehen entfällt. (siehe hierzu: Rechtfertigungen)

Letztlich läuft es darauf hinaus, ob man sich in einer Position der Stärke oder der Schwäche befindet. Die stärkere Partei vermag ihr Spiel durchzuziehen, hat keine Not, Änderungen oder Finessen einzuführen, solange der Erfolg sich einstellt. Die schwächere Partei muss auf Abhilfe sinnen, muss von dem gewählten Kurs abgehen, oder „in Schönheit sterben“. Denn was nützt es, wenn gemäß aller Erfahrung, ein bestimmtes Vorgehen mit hohem Prozentsatz erfolgreich ist; eben dieses Vorgehen jedoch im konkreten Falle in den Abgrund führt?

Meist geht es dann um Fragen, ob eine bestimmte Kugel grundsätzlich angegriffen werden muss oder ob vor einem Angriff erst eine eigene Kugel aussichtsreich positioniert werden sollte[2]. Gleich, wie die Entscheidung ausfällt, die Auswirkungen sind tiefgründig und reichen bis in die Psyche der Spieler hinein.

 

Schematisch vorzugehen bedeutet, von lokalen Verhältnissen, individueller Spielstärke, Tagesform und mentaler Disposition einfach abzusehen. Wer dennoch den Sieg zu erzwingen vermag, darf sich sicher zu den wahrhaft guten Spielern zählen. Den Übrigen jedoch obliegt es, durch Finesse auszugleichen, was ihnen an Stärke mangelt. 

 

LISTEN WEBEN, BETRÜGEREIEN MÄHEN.

Homer

 

 

Thorsten


[1] Gemeint sind damit nicht jene unvorhergesehenen Ereignisse, die sich im Spiel ohnehin durch stets gegebene Ungenauigkeiten ereignen. Ein unbeabsichtigtes Sauziehen kann beispielsweise in der Tat eine böse Überraschung sein. Vielmehr geht es darum, das eigene Spiel so anzulegen, dass es für den Gegner weniger ausrechenbar wird:

Wie ein Gewässer mal transparent, dann wieder opak sein kann, wobei es in seinem klaren Zustand den Reiher begünstigt, bei Trübung jedoch die Fische schützt, so kann auch das Spiel mal festen Grundsätzen folgen, ein anderes Mal in unvorhersehbaren Wendungen verlaufen. So vermag mal die stärkere, dann wieder die schwächere Seite ihren Nutzen daraus zu ziehen.

[2] Carl von Clausewitz - Vom Kriege: Drittes Buch, Kapitel 9 - Die Überraschung

Anmerkung: In einem für die Philosophie des Boulelexikons wichtigen Artikel werden, auf den Spuren Macchiavellis, zwei Arten von Situationen unterschieden: Solche, für die man Vorbereitungen getroffen hat und solche, denen man ausgeliefert ist (siehe: Vom Umgang mit wechselndem Glück). Das Spiel auf Überraschungen hin anzulegen bedeutet den Versuch, dem Gegner eine Realität zu bereiten, für die er keine Vorkehrungen treffen konnte – ihn ins Chaos zu stoßen – die aber zumindest so bedrohlich ist, dass die zu treffenden Maßnahmen seine Kräfte aufzehren bzw. eine Verzettelung bewirken.

 

Nicht jeder gute Techniker besitzt zudem die mentale Stärke, sich in der Krise zu behaupten:

Warum beispielsweise ist denn bei versierten Spielern das Raffeln verpönt? Weil es dem Neuling Spielzüge ermöglicht, die sonst nur nach langer Übung erfolgreich durchgeführt werden können? Wohl kaum oder gewiss nur zum Teil, denn meist sind ja erfahrene Spieler über gehörige Gegenwehr durchaus erfreut. Vielmehr ist es das Element des Zufalls, das sie fürchten. Bei Flachschüssen wird regelmäßig auch das Cochonnet verschoben, was dann eine vollkommen veränderte Situation nach sich zieht. Ausgeliefert zu sein, wo man doch aufgrund der eigenen Kompetenz sicher sein müsste, das zehrt auch an der Moral der erfahrensten Spieler.


Bild (Waldweg): Von Johannes Plenio auf Pixabay 

Bild (Macchiavelli): Von wgbieber auf Pixabay