Kugelphysik


Sie sind Pétanquespieler? Dann haben sie das Folgende bestimmt auch schon einmal erlebt: Die erste Kugel ist gelegt und nun sind Sie am Zuge. Schon rollt Ihr Sportgerät und liegt, als es seinen Lauf endet, genau so gut oder schlecht wie des Gegners eherner Ball. Beide teilen sich eine Umlaufbahn um das Cochonnet. Der Spieler am Kreis macht ein vielsagendes Gesicht, das er - lakonisch gekonnt - mit dem Ausspruch „könnte“ unterstreicht. Nachdem er das Gebilde mehrfach umrundet hat, wie eine Raumsonde einen Planeten auf der Suche nach einer günstigen Landestelle, signalisieren seine hochgezogenen Schultern: „Houston, we've got a problem.“

Könnte man auch messen“, entfährt dem Einsilbigen sodann ein wahrer Redeschwall.

M-E-S-S-E-N! Das ist das Stichwort.

Wie auf Kommando verschwinden die Hände aller Beteiligten in den Hosentaschen. Nicht aber um sich aufzuwärmen oder um nun hektisch nach Instrumenten zu suchen, die des Menschen Auge bei der Abstandsbestimmung zu unterstützen vermögen. Vielmehr erstarren alle zu Salzsäulen.

 

Nach einem Moment der Schockstarre beginnt eine Art Völkerwanderung. Die ganze Gemeinschaft begibt sich auf Pilgerfahrt zum Kreis, wo sie durch Herumlaufen und unter gegenseitigen Versicherungen, man könne es nicht genau erkennen, testet, wem zuerst der Geduldsfaden reißt.

 

Möglicherweise handelt es sich bei diesem Ritual auch um einen perfiden Intelligenztest, bei dem der Gruppendümmste bestimmt werden soll. Dieser offenbart sich dann auch mit schöner Regelmäßigkeit, indem er ein Messinstrument hervorholt, wofür er von allen sogleich mit dem Amte des „Messdieners“ betraut wird.

 

Während sich der tumbe Gesell nun wacker müht, die winzigen Skalen zu erkennen und dabei in der Hocke balanciert, nutzen seine Mitspieler die Gelegenheit und präsentieren ihm einen Schwall an Tipps, die ihm die Messerei erheblich erleichtern könnten. Schließlich verkündet der arme Tropf sein Ergebnis und nun zeigt sich, wie sehr das Abendland von der segensreichen Einrichtung des kritischen Geistes durchdrungen ist: „Das habe ich anders gesehen!“, bekundet ein Mitspieler seinen Grundsatz, nur unumstößliche Tatsachen gelten zu lassen. Aus Gründen der Objektivität und sich auf allerlei orthopädische Probleme berufend, schreitet er aber nicht selbst zur Tat, sondern hypnotisiert den Maßbandbesitzer so lange, bis dieser sich zu einer erneuten Examination des Kugelbildes entschließt.

 

Dieses Gebaren kann sich noch mehrfach wiederholen bis, ....nein, nicht bis ein objektives Ergebnis gefunden wurde. Irgendwann wird aufgrund der ungewohnten Körperhaltung und der zunehmenden Ermüdung dem Messknecht ein Missgeschick unterlaufen. Er wird eine Kugel oder das Cochonnet berühren, alle werden erklären, das gehe nun eigentlich nicht, die Messung habe das Ergebnis verändert, aber man könne ja die Aufnahme gerne wiederholen.

 

Genau das geschieht nun auch:

Während Sie also beobachten, wie ihr Gegner den neuen Kreis zieht, spüren Sie an Ihrem rechten Ohr plötzlich einen Luftzug. „H-e-i-s-e-n-b-e-r-g“, flüstert es da, und abermals: „H-e-i-s-e-n-b-e-r-g“.....

Der Boulegott höchstselbst hat die ganze Szene beobachtet und ihm wird von der Messerei wirklich langsam fad. Indem er ihnen eine Idee eingibt, will er einen letzten Versuch unternehmen, alles zum Besseren zu wenden.

                                                       „H-E-I-S-E-N-B-E-R-G“

 

Heisenberg? Sie versuchen sich an ihren Physikunterricht zu erinnern, den sie in Folge einer erfolgreichen Therapie des posttraumatischen Syndroms vollständig verdrängt hatten. Das war doch jener Physiker, der bei dem Versuch, die genaue Position eines Elektrons zu bestimmen, zu der bahnbrechenden Erkenntnis gelangte, dass bereits die bloße Beobachtung - sprich Messung - des Vorganges das Messergebnis verändert. Aus der eben gemachten Erfahrung schließen sie, dass dieser Gedanke keinem Pétanquespieler fremd sein kann. Heisenberg schloss daraus, dass die genaue Lage des Elektrons durch Messung nicht zu bestimmen sei. Es bleibt immer eine Unschärfe, die er in die berühmte "Unschärferelation" fasste, die seinen Namen trägt. Wie sich zeigte, kann die ganze Welt mit dieser Unbestimmtheit prima leben, ja, sie ist die Grundlage aller Quantenphysik. 

 

Jetzt verstehen sie, was ihnen der Boulegott sagen wollte. Wenn sogar die Physik mit der Unschärfe leben kann, warum nicht auch die Pétanquespieler? Warum verschwenden sie ihre Zeit mit kleinlichem Messen, das scheingenaue Ergebnisse produziert. Was ist das Ruhmvolle an einem Punkt, der möglicherweise nur zustande kam, weil gestern eine Ameise ein Krümelchen auf einem Donée vergaß? Wäre es nicht ein Segen, man einigte sich im Zweifelsfalle schnell auf die Diagnose: Unschärfe - nicht messbar?

Während Sie dieses noch durchdenken, haben Sie bereits ihre Kugel gespielt, Sie suchen den Blickkontakt zum Spieler am Kreis. Schweiß tritt Ihnen auf die Stirne, denn ... sein Blick hat schon wieder so etwas Unbestimmtes............

 

Thorsten