Zen; Die Konzeption des "DO" und Pétanque


Den Rhythmus der Natur wahrnehmen
Den Rhythmus der Natur wahrnehmen

Wer sich in einer Präzisionssportart versucht, etwa dem Bogenschießen, oder eben dem Pétanque, und nach geistiger Unterfütterung seiner Bemühungen Ausschau hält, stößt unweigerlich irgendwann auf Aussagen, die aus der fernöstlichen Philosophie des „ZEN" abgeleitet werden. So berichtete etwa Eugen Herriegel in seinem vielgelesenen und auch vielzitierten Buch "Zen in der Kunst des Bogenschießens" über seine Erfahrungen beim Erlernen der traditionellen japanischen Bogenkunst, worin er eine Vorschule des „Zen-Buddhismus“ erblickte. Er traf darin freilich Aussagen, die auf Missverständnisse zurückgeführt wurden[1]. Frappierend ist jedoch, wie sehr diese Schilderungen den Kern der Sache treffen. Viele Schützen unterschiedlicher Sportarten hatten beim Lesen ein „Aha-Erlebnis“ und fanden sich und ihre Bemühungen in dem Bericht wieder – was dessen anhaltenden Erfolg erklärt. 

Wenn nach Kultur- und Kenntnisstand Außenstehende, sich jedoch Aussagen und Konzepte einer ihnen fremden Lehre aneignen, ohne deren Kontext hinreichend zu verstehen, hat das stets etwas Bedenkliches. Es stellt sich daher die Frage, mit welchem Recht man darauf zurückgreift und Empfehlungen ausspricht, denn im Boulelexikon ist das an vielen Stellen so geschehen.

Zwei Umstände lassen es – bei aller gebotenen Vorsicht – dennoch redlich erscheinen, diesen Pfad zu beschreiten: Zum einen besitzt die „Zen-Lehre“ kein durchgebildetes gedankliches System, wie es von anderen Philosophien bekannt ist; lehnt Lehrsätze und Dogmen ab und versucht Erkenntnis überwiegend aus praktischem Handeln abzuleiten („Das Leben ist die Lehre“)[2]. Zum anderen existieren bestimmte japanische Künste, aus denen spezifische Aussagen abgeleitet werden, unabhängig vom Zen-Buddhismus, obgleich sie von diesem beeinflusst wurden und vice versa: „Man muss kein Zen-Buddhist sein oder werden, um Kyodo zu üben“[3] (Kyodo = Traditionelles japanisches Bogenschießen). Der Idee, Erfahrungen selbst zu machen, wird man sicher mit weniger Vorbehalt entsprechen, als es das Befolgen ausgearbeiteter Systeme gebietet – wenngleich die Gefahr, Trugschlüssen zu unterliegen, hie wie dort stets gegenwärtig ist[4]. 

Was hat es nun mit besagten Künsten auf sich, aus deren vielfältigen Erfahrungen wir uns immer wieder bedienen, um – auf unserem Weg – zu eigenen Erkenntnissen zu gelangen?

Eine der Künste - CHADO, der Teeweg
Eine der Künste - CHADO, der Teeweg

Im historischen Japan bildeten sich, insbesondere mit dem Anbrechen der Tokugawazeit (1603 –1868) Künste aus, die in spezifischer Weise in eigenen Schulen gelehrt und tradiert wurden. Diese waren Kampfkünste, aber auch das zeremonielle Bereiten von Tee oder das Blumenstecken. Gemeinsam ist diesen Bemühungen das Streben, durch intensive Beschäftigung mit einem eng begrenzten Teilbereich des Lebens, und dessen geistiger Durchdringung, auf das große Ganze schließen zu können, also durch das Studium von Details zu universellen Einsichten zu gelangen[5]. Natürlich spielt auch die Perfektionierung der ausgeübten Tätigkeit selbst, eine wesentliche Rolle.


Dass diese Idee auch unserem Kulturkreis nicht fremd ist, mag folgendes Goethezitat belegen:

 

"ALLEM LEBEN, ALLEM TUN, ALLER KUNST MUSS DAS HANDWERK VORAUSGEHEN, WELCHES NUR IN DER BESCHRÄNKUNG ERWORBEN WIRD. EINES RECHT WISSEN UND AUSÜBEN, GIBT HÖHERE BILDUNG ALS HALBHEIT IM HUNDERTFÄLTIGEN"

                                                          Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre


Die traditionellen Künste, etwa, Kyodo, oder Judo, Kendo etc. tragen sämtlich die Endsilbe DO, was in diesem Zusammenhang gewöhnlich mit „Weg“ übersetzt wird: „... „Do“ wurde daher von den Japanern verstanden als Weg oder Straße, der man im Leben zu folgen habe. Dieser Weg ist endlos und tiefgründig. Er ist lang, steil, und mit vielerlei technischen Schwierigkeiten angefüllt. Er ist zu gehen als ein Mittel der Selbst-Kultivierung, und führt schließlich zur Selbstperfektion."[6] Es geht also nicht allein darum, sich die zur Ausübung einer Kunst notwendigen Techniken anzueignen, sondern im Ausüben dieser Kunst, im steten Streben nach Verbesserung, selbst ein anderer zu werden.

Das legt den Gedanken nahe, Pétanque ebenfalls auf diese Weise zu betreiben, es als „DO“ aufzufassen; den Pétanque-Weg als seinen Lebensweg zu erkennen.[7] Betrachten wir einige Zielsetzungen im Kyodo, erkennen wir sogleich die Relevanz für das Spiel mit den Kugeln:

Bei stark durchritualisiertem Bewegungsablauf wird jeder Schuss mit möglichst großer Präzision und Konzentration ausgeführt. Dabei geht es um das Finden der richtigen Körperhaltung, das Erkennen der Bedeutung des Körperschwerpunktes, das Vermeiden von Fehlspannungen und das Finden der richtigen Bewegungsdynamik. Der Schütze soll dabei sein Denken voll und ganz auf das gegenwärtige Tun lenken, und Vergangenes sowie Künftiges aus seinem Geist verbannen. Der ideale Schuss resultiert also sowohl aus körperlichen also auch aus geistigen Faktoren, fußend auf erhöhter Körperachtsamkeit. Es bedarf hierzu eines spezifischen Zusammenspiels von Ratio und Instinkt.

Den steten Strom der Erfahrungen aufnehmen und bewahren
Den steten Strom der Erfahrungen aufnehmen und bewahren

Dem interessierten Leser empfehle ich zur Vertiefung der Zusammenhänge, die hier nur angerissen werden konnten, den hervorragenden Vortrag von MATTHIAS OBEREISENBUCHNER: EUGEN HERRIGEL UND DER WESTLICHE BLICK AUF DIE FERNÖSTLICHE KULTUR aus dem ich abschließend die folgende Aussage – leicht modifiziert herausgreife: „Wenn man aber Kyudo/Pétanque mit Hingabe und ganzem Herzen beharrlich übt, ohne damit etwas andres zu wollen als Kyudo/Pétanque zu üben, dann entspricht das dem Zen-Geist, ohne dass überhaupt Bezug auf Zen genommen werden müsste.“

 

 

Thorsten


[1] Ein eigener Artikel im Boulelexion beschäftigt sich damit und verweist auch auf die kritischen Stimmen: Zen in der Kunst des Bogenschiesses

[2] Kleine Weltgeschichte der Philosophie (Störig 1981, Band 1 S.62-63].

[4] Die entsetzlichen Folgen, die aus der kritiklosen Übernahme von Ideen aus Religionen oder Ideologien resultieren, dürften jedermann präsent sein und bedürfen hier keines Beleges. Doch auch der eigenen Fähigkeit, das Wesen der Welt erkennen zu können, sind Grenzen gesetzt. Das zeigt im Detail ein unglaublich umfangreicher Katalog „Kognitiver Verzerrungen“. Ebenso gibt die Erkenntnistheorie reichhaltig Anlass dazu, dem eigenen Urteilsvermögen nicht zu viel Bedeutung beizumessen.

[5] Vergl.: Abschnitt: „Methode“ im Vorwort zum Boulelexikon]

[7] An dieser Stelle möchte der Autor berichten, dass er einst ganz intuitiv damit begonnen hatte, Pétanque auf die hier geschilderte Weise zu betreiben – ohne die geringste Kenntnis der Zen-Lehre oder der „Konzeption des DO“. Vielmehr war es so, dass er die Nützlichkeit dieses Unterfangens erkannte, als er begann, selbstgemachte Erfahrungen für andere aufzubereiten und dabei tiefer zu durchdenken. Dabei fanden sich immer mehr Bezüge zwischen der Welt des Spiels und der eigentlichen Welt – tatsächlich konnte auf vielfältige Weise von den Details des Spiels auf das Universelle geschlossen werden. Selbstverständlich wirkte sich die intensive Beschäftigung mit der Materie auch positiv auf das Spielvermögen aus. Erst später offenbarte sich, dass dieser Gedanke, den wir als "Konzeption des DO" kennengelernt haben, bereits ausgearbeitet vorlag und seit Jahrhunderten praktiziert wurde. Desto stärker war danach die Überzeugung von der Fruchtbarkeit des Ansatzes. Das Boulelexikon entstand also ungewollt gemäß der Herangehensweise der „DO – Konzeption“: Intensives Bemühen und praktisches Üben in einem eng umgrenzten Bereich führte zu tieferer geistiger Durchdringung und zu Rückschlüssen, die auf das Große-Ganze abzielen. Es führte – möglicherweise – auch zu einer Veränderung des Übenden selbst.


Bilder:

Steine am Meer: Bild von Free-Photos auf Pixabay 

Tee: Bild von naturalogy auf Pixabay

Brunnen: Bild von Michael Gaida auf Pixabay