Der Wurf als Sequenz


Am 15. November 1993 stellte der immerhin 71-jährige Tom Amberry einen erstaunlichen Rekord auf. 2750 mal traf er mit einem Basketball von der Freiwurflinie in den Korb, ohne zu fehlen. Der Rekordversuch endete jedoch nicht mit einem Fehlwurf, sondern durch den Hausmeister, der Feierabend machen wollte und die Halle schloss.

Die Ausführung eines Freiwurfs beim Basketball ähnelt in eklatanter Weise der Aufgabe, vor die Pétanquespieler gestellt sind. Eine stillstehende Person versucht einen runden Körper mit bogenförmiger Flugbahn auf ein enges Ziel zu lenken und muss sowohl mentale als auch körperliche Schwierigkeiten meistern. Genau darum müssen wir Boulespieler, die wir unermüdlich nach Tipps und Tricks forschen, mittels derer wir unser Spiel verbessern können, uns die Frage stellen: "Tom, wie hast Du das gemacht?"

Tom Amberry beriet nach seinem Fabelrekord Profimannschaften und schrieb ein Buch, in dem er seine Lehre darlegte. Eine Recherche ergab erstaunlicherweise, dass es keineswegs geheimnisvolle Kniffe waren, die den Rentner zu seiner Leistung befähigten. Alle von ihm genannten Elemente sind hinlänglich bekannt und so ist man versucht zu sagen, Tom Amberry hätte "das Pulver nicht neu erfunden". Das ist ebenso wahr, wie es uns auf die richtige Fährte führt, denn beim Schießpulver ist es auch nicht die Exotik der Ingredienzien, die den Knalleffekt verursacht, es ist deren Auswahl und Mischungsverhältnis.

Bei dem Versuch, die Erkenntnisse des Freiwurfkönigs auf das Pétanquespiel zu übertragen, stellte sich heraus, dass alle Elemente bereits im "Boulelexikon" behandelt und beschrieben worden waren. Den meisten erfahrenen Spielern sind sie sicher bekannt. Sie sollen dennoch gleich kurz skizziert werden. Eines ist vorab jedoch wichtig: Ein Spieler sollte seinen Wurf als Sequenz aus Teilelementen begreifen, die nacheinander abgearbeitet werden. Zwar gilt es, jedes dieser Elemente zu optimieren, die ganze Sequenz aber sollte stets vollkommen gleich ablaufen. Sie sollte ein Automatismus werden, der unter Druck nicht abgewandelt wird. Hierzu muss diese Sequenz bereits im Training immer komplett ausgeführt werden, damit sie sich einschleift. An dieser Stelle können wir schon festhalten, dass es Disziplin und Systematik waren, die "Dr. Tom" - so sein Spitzname - zum Rekord führten.

Aus welchen Teilelementen kann nun im Pétanque ein Wurf bestehen, woraus besteht die Sequenz?

1. Das Betreten des Kreises

2. Die Einnahme der gewohnten Fußstellung und das ausgewogene Stehen

3. Das Abschätzen der Zielentfernung

4. Die Ausführung eines Wurfrituals und geistige Vorwegnahme der Bewegung

5. Der Blick auf das Ziel und Fokussierung

6. Die Wurfbewegung

7. Die Nachwurfbewegung

Betrachten wir die Elemente "en detail":

1. Das Betreten des Kreises

Der Kreis sollte stets auf die selbe Weise betreten werden. Manch Spieler schlendert hinein, oder verweilt kurz an der Linie bevor er das Rund aufsucht. Es kommt darauf an, sich in dieser Phase zu entspannen, locker zu bleiben oder zu werden, Gelassenheit auszustrahlen. Ein ruhiger Gang und eine gleichmäßige, bewusste Atmung sind hilfreich.

GELASSENHEIT

ANSPANNUNGEN ABSCHÜTTELN

Aufschwung aus sicherem Stand
Aufschwung aus sicherem Stand

2. Die Einnahme der gewohnten Fußstellung und das ausgewogene Stehen

Eine gute Stellung und ein gleichgewichtiger Stand sind das Fundament des Wurfes. Selbstverständlich muss ein Spieler "seinen" Stand kennen und darf ihn nicht ständig variieren. Den Beinen ist beim Wurf insofern Beachtung zu schenken, als sie nicht so steif bleiben dürfen, dass sie dem Oberkörper alle Arbeit überlassen. Die Wurfbewegung beginnt bei den Füßen, durchläuft den ganzen Körper und endet in der Hand. Der Pétanquespieler steht sicher recht still, muss sich aber eine gewisse Bewegungsdynamik erhalten.

FUNDAMENTALES - DIE FÜSSE

FEHLSCHÜSSE LESEN

DIE KUNST DES WEGLASSENS

3. Das Abschätzen der Zielentfernung

Anders als beim Basketball verändert sich beim Boule die Zielentfernung. Der Spieler muss sich also ein Bild von der räumlichen Lage der Kugeln machen. Mit der Zeit gelingt das sekundenschnell und ohne Probleme - reine Erfahrungssache.

DER MYTHOS VOM ZIELEN

4. Ausführung eines Wurfrituals und geistige Vorwegnahme der Bewegung

Wurfrituale können kurios aussehen; für den Erfolg sind sie von zentraler Bedeutung. Ihr Hauptsinn besteht darin, den Geist zu beschäftigen. Nichts fällt diesem schwerer als Untätigkeit. Gern möchte er abschweifen, analysieren, vergangene Spielzüge erneut betrachten, hadern oder bangen. Nichts von alledem können wir in dem Moment gebrauchen, da es ans Werfen geht. Ein festes Ritual verhindert das Abschweifen des Geistes und erhält die Konzentration. Beispielsweise kann man vor der Wurfbewegung dreimal die Kugel drehen, zwischen Kugel und Hand hauchen und den Arm in eine spezifische Stellung bringen. Vieles andere ist denkbar. Es ist hier nicht wichtig WAS geschieht, sondern DAS etwas geschieht.

Auch die geistige Vorwegnahme der Wurfbewegung erfüllt die Funktion eines Rituals. Von ihr gehen freilich noch weitere nützliche Effekte aus. Ebenfalls zur Anwendung geeignet ist die Imagination von Worten und Bildern zur bewussten Unterdrückung negativer Gedanken.

RITUALE

MENTALES TRAINING UND DIE MACHT DER BILDER

INNERER MONOLOG UND BEWUSSTSEINSSTROM

5. Blick auf das Ziel und Fokussierung

Kurz vor dem eigentlichen Wurf wird das Ziel in den Fokus genommen. Die Augen suchen es und bleiben darauf gerichtet, bis die geworfene Kugel zum Stillstand kommt. Der Blick schweift also nicht zur fliegenden Kugel oder wendet sich frühzeitig ab. Dieses dient der Einübung einer absoluten Fokussierung auf das Ziel und einer Unterdrückung aller anderen Eindrücke. Es ist anzustreben, die Zeit zwischen Erblicken des Zieles und Ausführung möglichst kurz zu halten. Dadurch soll dem Geist keine Möglichkeit gegeben werden, ins Grübeln zu kommen. Weiterhin wird dadurch der automatisierte Ablauf der Wurfbewegung gefördert. Wir verfügen von Natur aus über die "Hardware" zu treffen. Indem wir zügig handeln, bringen wir sie störungsfrei zum Einsatz.

WOHIN MIT DEM BLICK?

DER WURF AUS WISSENSCHAFTLICHER SICHT

 

Pétanque / Boule - Tipps & Tricks - Wurf als Sequenz - Technik / Boulelexikon
Im Pétanque von großer Wichtigkeit: Der langgestreckte Arm

6. Die Wurfbewegung

Unser Bewegungsmuster haben wir uns durch unzählige Wiederholungen erarbeitet. Wir haben versucht, uns einen möglichst effektiven und sauberen Stil anzueignen. Jetzt lassen wir unsere Bewegungen einfach wie gewohnt ablaufen. Das Finden wiederholbarer Bewegungsabläufe ist essentiell für den Erfolg. Würfe dürfen keine Unikate sein; bei guten Spielern sind sie Serienprodukte.

 

DER RICHTIGE SCHWUNG

STILFRAGEN

BEWEGUNGS UND ZIELORIENTIERUNG

DRALL ff.

7. Die Nachwurfbewegung

Nachdem die Kugel unsere Hand verlassen hat, stoppen wir unsere Bewegung nicht abrupt. Wir lassen sie harmonisch weiterlaufen und verharren noch einen Moment im Kreis. So fördern wir die ruhige und fließende Ausführung des gesamten Wurfes und nehmen das Resultat unseres Handelns als Gefühl in uns auf. Das so gebildete Empfinden wird uns bei unseren nächsten Würfen nützlich sein.

AUSSCHWINGEN LASSEN 

Einzelheiten betrachten und das Ganze im Blick behalten
Einzelheiten betrachten und das Ganze im Blick behalten

Das Einüben und Verwenden einer kompletten Wurfsequenz, wie sie hier beschrieben wurde, erfordert Disziplin. Am Anfang stehen die Mühen, Erfolge zeigen sich erst später. Besonders im Training, wenn Würfe ohne Druck mit Leichtigkeit gelingen, mag man sich nicht gern in das enge Korsett eines strikten Ablaufes pressen lassen. Genau dessen Struktur ist es aber, die in Drucksituationen Halt gibt. Mag man sie auch individuell anpassen, gänzlich auf sie zu verzichten wäre unklug.

Es ist fraglich, ob es allein ausreicht, als Spieler auf den "Effekt der großen Zahl" zu setzen, also darauf zu vertrauen, dass mit vielen Spiel- und Übungsstunden das Spielvermögen automatisch zunimmt. Nur wer bei Übungen das Richtige übt, übt auch richtig (siehe auch: DREI PHASEN DES TIREURTRAININGS). Nur wer in Spielen das Richtige versucht, entwickelt sich weiter. Tom Amberry hat uns eine Struktur vorgegeben, die uns diese Aufgabe erleichtert. Die Disziplin, sie anzuwenden, müssen wir freilich selbst aufbringen.

 

Thorsten


Dieser Artikel wird ergänzt durch: "Was denken, beim Wurf?"


Bild: Baumveteran bei Seedorf (Niedersachsen)