Asymmetrie der Neigung zu Chance und Risiko


"WER NICHTS WAGET, DER DARF NICHTS HOFFEN.

 

"WARUM WAGEN, WO NICHTS GEWONNEN WIRD UND ALLES VERLOREN WERDEN KANN?"

 

FRIEDRICH VON SCHILLER (1759 - 1805), ARZT, DICHTER, PHILOSOPH UND HISTORIKER 


Beim Pétanque zeigen Menschen ein erstaunlich irrationales Verhalten, wenn es darum geht, Chancen zu nutzen oder Risiken einzugehen:

Bild 1
Bild 1

Wenn beispielsweise bei hohem Kugelvorteil zu entscheiden ist, ob ein „vorhandener Punkt“ riskiert werden soll, um Platz für die noch zu spielenden Kugeln zu schaffen, fällt die Wahl häufig zugunsten dessen aus, was man bereits hat; obwohl das bedeutet, die noch zu spielenden Kugeln faktisch abzuschreiben. Dass „der Honig nicht weit vom Stachel“ ist, wird dabei übersehen.

 

In der in Bild 1 gezeigten Situation wird, wider jede Logik, von ROT auf den befreienden Schuss verzichtet. Sollte er doch unternommen werden, dann oft gehemmt, in dem wenig hilfreichen Bestreben, die eigene Kugel zu schonen. Folge: Der Schuss geht rechts vorbei. 


Bild 2
Bild 2

Wenn aber der Gegner „den Punkt hält“, wird häufig viel zu vehement versucht, eine Kugel besser zu platzieren, auch wenn das bedeutet, dass hernach die eigenen Kugeln hinter dem Cochonnet liegen und so der Weg geebnet ist, weitere Punkte abzugeben. „Erst wägen, dann wagen“ - dieses Vorgehen wäre hier angeraten[1].

 

In Bild 2 durfte es für ROT  mit A und B nur noch darum gehen, mit diesen letzten zwei Kugeln des Gegners Bahn zu stören. Der Versuch zu Punkten, hat alles noch verschlimmert.


Offensichtlich ist Punkt nicht gleich Punkt. Ist er beim Gegner und soll zurückgeholt werden, wird häufig mit höherer Risikoneigung gespielt; besitzt man selbst jedoch in einer Aufnahme bereits einen Punkt, sinkt die Begeisterung für riskante Operationen merklich ab, mittels derer weitere Punkte zu holen wären. Wie ist das zu erklären?

 

Die Neue Erwartungstheorie[2] beschäftigt sich mit der Entscheidungsfindung in Risikosituationen. Anders als klassische Ansätze, die von rein rationalem Verhalten ausgehen, bemüht sie sich, menschliches Verhalten realistischer abzubilden. Dieses wird gemeinhin durch eine Vielzahl kognitiver Verzerrungen beeinflusst.

 

Im Zuge der Entwicklung der Neuen Erwartungstheorie konnte experimentell nachgewiesen werden, dass Menschen im allgemeinen eine Verlustaversion hegen. Verluste schlagen demnach psychologisch stärker zu Buche als Gewinne. Dieses Verhalten ist evolutionsgeschichtlich begründet. Offensichtlich stellte es einen Vorteil im Überlebenskampf dar, Bedrohungen vordringlich zu behandeln und Chancen hintan zu stellen. (Siehe auch: "Angst, Risiko, Chance").

 

Ein Video fasst die Kernaussagen der Theorie anschaulich zusammen: 

https://www.youtube.com/watch?v=PKRSLFd31UQ

Im Pètanque bedeutet das: Wenn ein Punkt gewonnen wurde und einer verloren ging, überwiegt bei den meisten unter dem Strich ein negatives Gefühl. In der laufenden Aufnahme wird eine Kugel, die vorläufig den Punkt markiert, bereits als Gewinn angesehen. Dieser vermeintliche Gewinn bildet den Referenzpunkt für die kommenden Entscheidungen. Diese werden so gefällt, dass Verluste möglichst vermieden werden. Eingegangene Risiken stehen häufig in keinem sinnvollen Verhältnis zum erzielbaren Gewinn.  

Mag es nun ein Leichtes sein, sich klarzumachen, dass derart getroffene Entscheidungen häufig irrational sind; mag man intellektuell auch vollständig davon überzeugt sein, im Spiel nicht risikoavers handeln zu dürfen, so wird die aufgezeigte Verhaltensneigung dennoch im Pétanque stets eine Rolle spielen, denn tief ist sie in des Menschen Psyche verankert:

 

Zum einen wird ein Spieler, der die Risikoaversion ablegen möchte, immer ein wenig gegen seine Intuition spielen, was leicht irritieren und sein Handeln behindern mag.

 

Zum anderen wird ein rationaler Spieler beständig auf den Widerstand von Mitspielern stoßen, die in Spielsituationen intuitiv entscheiden, was Reibungen verursacht.  

Erfahrene Spieler und eingespielte Mannschaften wissen, wie sie dem entgehen. Sie führen bestimmte Operationen grundsätzlich durch, ohne sie zu hinterfragen. Sie greifen an, wenn hoher Gewinn winkt und spielen defensiv, wenn hoher Verlust droht. Geht dabei etwas schief, wird das mit Achselzucken quittiert und bedarf keiner weiteren Deutung. Das Bangen vor minimalem Verlust und das sich Exponieren für minimalen Gewinn, ist unprofessionell.

Thorsten


Anmerkung: In Pétanquepartien kommt es regelmäßig zu Irritationen bezüglich der einzugehenden Risiken. Meist sind denn Spieler unterschiedlicher Erfahrungsniveaus involviert. Ebenso, wie relativ unerfahrene Spieler in der Regel "alten Hasen" vertrauen sollten, den Kurs richtig zu bestimmen, sollten "Veteranen" mit der intuitiven Risikoaversion ihrer Mitspieler milde ins Gericht gehen, denn mit hoher Wahrscheinlichkeit treffen sie im "wahren Leben" Entscheidungen ähnlicher Natur.


[1] Helmuth von Moltke (Generalfeldmarschall) (1800 - 1891), Preußischer Generalfeldmarschall und Heerführer

[2] Die Neue Erwartungstheorie (Prospect Theory), wurde 1979 von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky als eine realistischere Alternative zur Erwartungsnutzentheorie vorgestellt. Kahneman erhielt im Jahr 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für dieses Konzept. 

Siehe hierzu: https://de.wikipedia.org/wiki/Prospect_Theory

 

Die Neue Erwartungstheorie hat sich aus empirischen Untersuchungen zum Entscheidungsverhalten in Lotterien (gambles) entwickelt, in denen die Alternativen sich bezüglich der Eintrittswahrscheinlichkeit und des gewinnbaren monetären Wertes unterscheiden.

Als Denkfigur scheinen mir solche „Lotterien“ fruchtbar zu sein, wenn es darum geht, zu erfassen, was der einzelne Wurf im Pétanque eigentlich ist: Eine Aktion, die mit bestimmter Wahrscheinlichkeit einen erwarteten Ertrag erbringt. Beides, Wahrscheinlichkeit und Ertrag, gilt es, möglichst realistisch vorherzusehen. Das führt dann nicht nur zu erfolgreicherem, sondern auch zu gelassenerem Spiel. Wie oft sieht man Akteure wütend nach Fehlwürfen aus dem Kreis treten, murmelnd: „Den muss ich machen“. Wirklich? Lag der Fehlschuss angesichts der langfristigen durchschnittlichen Trefferquote nicht eher im Bereich des Möglichen? Schade, fürwahr, ab auch kein Anlass, sich in Hader und Gram zu ergehen.    


Quelle: Für diesen Aufsatz verwendete ich überwiegend das Kapitel 26 - Die Neue Erwartungstheorie in: Daniel Kahneman – Schnelles Denken, langsames Denken – Penguin Verlag (15. Aufl.)

Eine Rezension bei Spektrum.de gibt eine knappe Übersicht über die Inhalte des Buches: https://www.spektrum.de/rezension/schnelles-denken-langsames-denken/1192274


Foto: Myriam Zilles auf Pixabay