Sukzess und Sukzession

– Beziehungen zwischen Erfolg und Nachfolge –


Bleibt vegetationsloser Boden sich selbst überlassen, wird er schnell von Pflanzen besiedelt. Das geschieht auf spezifische Weise, indem zunächst Pionierpflanzen aufkeimen und im Zeitverlauf Lebensmöglichkeiten für weitere Arten schaffen. Jede dieser zusätzlichen Spezies steht also in der Nachfolge ihrer Vorgänger und bereichert ihrerseits das Habitat um Lebensraum.

 

Der skizzierte Prozess der Aufeinanderfolge wird als Sukzession bezeichnet. Im übertragenen Sinne findet sich dieses Prinzip auch an vielen Stellen im Pétanque. Wie hängen hier Erfolg und Nachfolge zusammen?

 

– Wiederholung, Korrektur, Systematik

Zunächst beim Wurf selbst, verstanden in rein technischem Sinne: Von dem Moment an, da er aufhört, ein Unikat zu sein – sobald ihn also der Spieler als Variation desselben begreift – beginnt der erfolgreiche Prozess der Sukzession. Der Akteur korrigiert, ausgehend von den jeweils letzten Würfen, erkannte Fehler systematisch. Dabei werden die Bewegungen einander immer ähnlicher, bis sich ein Muster regelrecht "einschleift". Intuitiv Handelnden, die ihr Tun nicht bis ins Detail hinterfragen, fällt es dagegen schwerer, aus dem bisher Vollbrachten jene Schlüsse zu ziehen, die eine Weiterentwicklung bewirken. Begangene Fehler fallen dann sogleich dem Vergessen anheim, ohne Spuren zu hinterlassen. Bei erfolgreicher Sukzession sind diese hingegen gerade der Dünger, der eine Verbesserung erst ermöglicht.

 

– Nachahmung anderer Spieler und Konkurrenz

Im spielerischen Umfeld lässt sich ebenfalls eine Sukzession beobachten. Je nachdem, wie ausgeprägt das technische Vermögen der Mitspieler sich zeigt, wird auch deren Entwicklung verlaufen. Einerseits vollzieht sich das Lernen in nicht geringer Weise durch schlichtes Nachahmen, andererseits spornen die entwickelten Techniken der Konkurrenten dazu an, hierauf Antworten zu finden, was zwangsläufig den Ausbau des Spielvermögens befeuern muss. Ein Spielort, wo regelmäßig ein reiches Leistungsspektrum erblüht, wird solcherart die Entfaltung der Einzelspieler befruchten.

 

– Aufeinander aufbauende Einzelleistungen

Im Zusammenspiel von Mannschaftsmitgliedern wird ebenfalls das Prinzip der Sukzession sichtbar, denn durch bestimmte Leistungen bereiten sie einander förmlich den Boden.

Beispielsweise erwächst aus dem konsequenten Legen von "Devantkugeln" eine Vielzahl von Handlungsoptionen für die nachfolgenden Teammitglieder, die sich beim "Durchlegen" nicht ergeben; erfolgreiche Schüsse im Allgemeinen und durch Carreaux veredelte Angriffe im Besonderen, ermöglichen die höhere Taktik des "Durchschießens"[1]; ein stabiles und souveränes Handeln des Einzelnen stärkt die Zuversicht aller Mannschaftsteile.

Erst durch willentliche Nachfolge entsteht das Teamplay. Die Aufnahme darf keine Abfolge von Einzelleistungen sein, sie sollte als folgerichtig gespielte Sequenz begriffen werden, die bei jedem Wurf mitgedacht werden muss. Häufig kann nur der Mitspieler ernten, was sein Partner gesät hat.

 

–  Vergangene Spiele

Beginnt auch jeder Wettkampf formal wieder bei Null, so wäre es eine Illusion zu glauben, jüngst Vergangenes hätte keinerlei Einfluss auf die Gegenwart. Ob und wie die letztgespielten Partien gewonnen oder verloren wurden, beeinflusst das künftige Handeln: Zum einen stärken Siege (und schwächen Niederlagen) das Selbstbewusstsein. Sie bestimmen, ob ein Akteur mit breiter Brust oder hängenden Schultern die Arena betritt. Zum anderen bilden sich durch vergangene Kämpfe Erwartungen, die sich in teils komplexer Weise auf kommende Spiele auswirken[2]. Mit dieser Materie angemessen umzugehen, ist Herausforderung und Erfolgsfaktor. Letztlich geht es darum, eine realistische Selbsteinschätzung zu gewinnen: Waren die jüngsten Niederlagen tatsächlich so verheerend / die Siege derart grandios? Hatten nicht eher Mitspieler einen geraumen Anteil daran? Sind Erwartungen an das Kommende überzogen oder untertrieben? Wir müssen erkennen, dass unser Spiel immer auch in der Vergangenheit wurzelt und die Zukunft beeinflusst.

 

Im Pétanque geht es darum, aktuelle Herausforderungen mit dem vorhandenen Rüstzeug zu meistern. Ebenso gilt es aber, das Arsenal langfristig zu mehren. Das gelingt, indem Ausschau nach Anknüpfungspunkten gehalten wird, die das eigene Spiel in einen größeren Zusammenhang stellen. Sukzession bedeutet hier letztlich, die Entwicklung bewusst voranzutreiben.

 

 

Die Spur legen – der Fährte folgen
Die Spur legen – der Fährte folgen

Bei allen Parallelen zwischen Biologie und Boule sind die Auswirkungen des Wettbewerbes glücklicherweise gänzlich verschieden. Wo in der Natur die sukzessive Veränderung des Lebensraumes den Pionieren die Grundlage nimmt, wodurch sie weichen müssen, führt der Wettstreit im Kugelspiel bei gelingender Sukzession dazu, dass alle miteinander und durcheinander wachsen können. Die Spielkultur darf daher niemals so restriktiv sein, dass der Erfahrungserwerb behindert wird. Stets gilt es, zwischen kurzfristigem Erfolg und langfristiger Entwicklung abzuwägen. Der Lorbeer gedeiht da, wo bewusst nachgefolgt und Nachfolge bewusst ermöglicht wird – Sukzess durch Sukzession.

 

Thorsten


[1] Beim "Durchschießen" wird jede vom Gegner gelegte Kugel angegriffen. Erfolgreich ausgeführt, können hohe Punktzahlen erzielt werden, sofern die eigenen Kugeln nach dem Schuss in Punktnähe verbleiben. Die Besonderheit ist darin zu sehen, dass hierbei nicht auf eine eigene Kugel gewartet wird, die aussichtsreich zu verteidigen wäre, sondern allein der antizipierte Erfolg den Schuss rechtfertigt. Der Schütze muss also davon ausgehen können, dass nachfolgende Spieler die Sequenz erfolgreich beenden werden.


[2] Mit dieser Thematik beschäftigen sich insbesondere die Artikel "Erwartungen" und "Zyklische Leistungsschwankungen".