Visualisieren im Pétanque

Der Mythos vom Zielen


"Das Bild ist die Mutter des Wortes."

Hugo Ball


Liegen Pétanquekugeln eng beisammen, sind präzise Schüsse gefragt. Die richtigen "Boules" dürfen nicht irgendwie entfernt werden, sondern nur auf bestimmte Weise – also "gezielt". Worin genau besteht aber dieses Zielen im Pétanque, das selbst Meisterschützen oft nicht befriedigend erklären können?

 

Niemand wird ernstlich behaupten, Zielen im Pétanque gleiche dem Zielen mit einem Gewehr. Zwar sieht man Boulespieler, die über ihren Handrücken visieren und maßnehmen, danach führen sie aber Bewegungen aus, weshalb dieses "Zielen" lediglich der Konzentration dient. Keinesfalls ist es mit dem Zielen beim Gewehrschuss vergleichbar, bei dem sich das System in vollkommener Ruhe befindet und das Projektil nur durch ein minimales Antippen des Abzuges ausgelöst wird.

Um dem Zielen beim Petanque näherzukommen, soll ein Bild bemüht werden:

 


Boule - Petanque / Tipps & Tricks
Bögen - Wassertropfen beschreiben ballistische Bahnen

 

 

Der Gärtner beim Sprengen.

Ein Gärtner soll ein Rosenbeet wässern, dessen Rosen regelmäßig neben- und hintereinander gepflanzt sind. Das fällt ihm leicht, denn er verfügt über einen Gartenschlauch, den er an einen Hahn anschließt. Das Wasser sprudelt nun mit einigem Schwung aus der Schlauchdüse. Der Gärtner, am Rande des Beetes stehend, kann jede der Rosen mit gezieltem Strahl treffen. Wechselt er zum nächsten Busch, so muss er lediglich den Anstellwinkel der Düse leicht variieren. So trifft des Wasserstrahles glitzernder Bogen zielgenau jede der dürstenden Pflanzen. Das Treffen aber, bereitet dem Gärtner keinerlei Mühe, denn jederzeit sieht er das Wasser perlen.

Fragt man sich, aufgrund welcher Faktoren der Gärtner den Strahl so zielgenau zu führen vermag, so sind nur zwei zu nennen. Zum einen ist es der konstante Wasserdruck, der das Wasser gleichmäßig aus dem Schlauch austreten lässt. Zum anderen ist es das Bild des Wasserbogens, das der Gärtner stets vor Augen hat und dessen Ausrichtung er immer nur leicht zu variieren braucht.

 

Wie in diesem Bild, so geschieht es auch beim Pétanque. Nur sind es hier nicht Tropfen, sondern Kugeln, die in schönen Bögen stahlblitzend zu Boden perlen. Der Schütze speichert in seiner Erinnerung die vielen Bogenlinien, auf denen seine Kugeln jeden beliebigen Ort erreichen. Zusätzlich merkt er sich die jeweils entsprechende Körperhaltung, die Bewegung, den Krafteinsatz etc. Die Summe dieser gemachten Erfahrungen wird er später nicht anders als mit dem Wort "Gefühl" umschreiben können. Sie stellt den Kern seines Spielvermögens dar.  

 


Die Aufgabe eines Spielers, der das Schießen erlernen will, besteht darin, die Wurfbewegung so zu verstetigen, dass sie berechenbar wird - wie ein Wasserstrahl - und es dem Unterbewusstsein zu überlassen, die jeweils richtige Kombination aus Krafteinsatz und Flugbahn auszuwählen. Um dem Unterbewusstsein das ausgewählte Ziel anzuzeigen, bedient er sich einer Technik, die mit bildlichen Vorstellungen arbeitet: der Visualisierung.


Mit dem Unterbewusstsein zu kommunizieren, sind Worte leider vollkommen untauglich. Es nützt nichts, wenn man sich vor dem Wurf leise selbst souffliert: "Die Kugel da vorne links, die muss ich treffen!" Vielmehr müssen wir in Bildern denken, uns den Kugelflug und deren Einschlag also bildlich vorstellen. Damit helfen wir dem Unterbewusstsein, die richtige Wahl zu treffen. Diese Technik nennt man "Visualisieren". Wir können sie sowohl beim Legen als auch beim Schießen trefflich einsetzen und damit zu höherer Präzision gelangen.

 

Es ist also kein Zielen durch visieren, das beim Boule eine Rolle spielt, sondern ein Zielen durch visualisieren. Wie ein Bibliothekar, der in den Regalen seiner Bibliothek immer das gewünschte Buch findet, so findet ein guter Schütze immer den richtigen Schuss, weil dieser bereits als Muster in seiner Vorstellung existiert. Um eine Kugel präzise zu treffen, hat ein Schütze sich lediglich vorzustellen, wie die Kugel fliegt und wo sie trifft. [1]

 

Wie kommt man zu einer guten Vorstellung des bevorstehenden Wurfes? Fehlt in unserem Beispiel dem Gärtner die Sicht auf den Wasserstrahl, ist er auf sein Vorstellungsvermögen angewiesen. Genau so ergeht es zuweilen dem Pétanquespieler: Ein Spieler, der in hoher Frequenz Kugel um Kugel schießt, erzeugt damit so etwas wie den Schlauchstrahl des Gärtners. Indem er die Bögen seiner fliegenden Kugeln vielfach sieht, fällt ihm das Treffen leichter. Er fühlt sich dann "gut eingeschossen". Im Spiel kommt es aber darauf an, die Würfe allein aus der Vorstellungskraft abzurufen. Das will geübt sein und ist die eigentliche Schwierigkeit beim Schuss. Ein Schütze darf daher nicht Trainingsfaul sein. Er muss mit Freude an der Sache im Solotraining unzählige Male auf Kugeln schießen und dabei darauf achten, seinen Bewegungsablauf zu kennen und zu verstetigen[2]. Peu a peu bilden sich dann in seiner Erinnerung jene Muster von Flugbahnen und Treffern, auf die er zurückgreifen kann, wenn es ernst wird.

 

Was also ist  Pétanquespielern zu raten? Findet lockere und saubere Bewegungen für jede Entfernung. Führt diese Bewegungen aus, bis sie euch in Fleisch und Blut übergehen - immer und immer wieder. Gilt es, eine Kugel zu treffen, unternehmt nichts, was über diese Standardbewegungen hinausgeht. Es ist die Standardisierung, die das Treffen erleichtert, denn durch sie gelingt es besser, sich die Flugbahnen vorzustellen; durch sie bedarf es immer nur kleiner Veränderungen, um zum nächsten Ziel zu gelangen - genau wie beim Wasserstrahl. Versucht immer wieder, das Gefühl, das genau zu eurem Ziel passt, in euch aufzuspüren. Nehmt Euch daher Zeit, das Ziel in den ruhigen Blick zu nehmen (Quiet Eye) und stellt euch die Aktion, die ihr gleich ausführen wollt, bildlich vor. Ihr werdet bemerken, dass ihr trefft, ohne zu zielen. Ihr trefft, weil der Treffer bereits in Euch existiert. Um das zu erreichen, braucht ihr das Ziel nicht im physischen Sinne anzuvisieren, es reicht aus, es fest anzublicken und dem Unterbewusstsein Gelegenheit zu geben die richtigen Wurfparameter auszuwählen. [3]

 

Thorsten


Anmerkung: Hier wie auch in anderen Texten erkläre ich das Werfen meist aus der Sicht des Schützen. Die meisten Aussagen lassen sich aber ebenso auf das Legen anwenden, denn die Grundproblematik ist hie wie dort dieselbe: Eine Kugel wird auf ein Ziel gelenkt, dass exakt getroffen werden soll und beschreibt dabei eine bogenförmige Flugbahn. Die Idee einer Verstetigung der Wurfbewegung lässt sich bis zu diesem Punkt hin fortdenken: Je stärker sich die Bewegungsmuster von Legen und Schießen ähneln, desto mehr profitiert in der täglichen Anwendung das eine Metier vom anderen.

Nachtrag: Fast jeder Spieler kennt den Moment, da er im Vorhinein weiß, dass er treffen wird. Er weiß es zu 100 % und selten betrügt ihn dann sein Gefühl. Unvermeidlich ereignet sich der Treffer. In solchen Fällen besteht eine vollkommene Deckungsgleichheit von vorgestelltem Schuss und Situation. Mit schlafwandlerischer Sicherheit trifft der Schütze die rechte Wahl. Das Schlafwandlerische ist aber auch der Grund, warum gute Schützen kaum mehr erklären können, wie sie es anstellen. Damit es gelingt, muss der oben beschriebene Prozess nahezu unbewusst und automatisch ablaufen. Das zu erreichen, bedarf es unzähliger Schüsse. 


[1] Mit diesen Bildern vor Augen erkennen wir, warum in dem Kapitel: "Drei Phasen des Tireurtrainings", besagte Phasen so und nicht anders gewählt wurden. In Phase 1 und 2 geht es nämlich darum, sich durch Übungen eine Bibliothek denkbarer Schüsse anzulegen, auf deren Inhalte später zurückgegriffen werden kann. In Phase 3 gilt es hingegen, den Prozess des Auswählens zu optimieren.

[2] Der Umstand, dass zunächst die richtige Bewegung gefunden werden muss, mittels derer dann die Treffer bewirkt werden, ist ebenso wesentlich, wie er leicht übersehen wird. Fast jeder Spieler versucht zunächst, irgendwie zu treffen. Auf diese Weise erzielte Erfolge bleiben aber Unikate, sind also nicht wiederholbar und im Spiel daher von geringem Wert. Um sich das Problem zu verdeutlichen, stelle man sich die Schwierigkeiten des Gärtners aus dem Gleichnis vor, die ihm erwüchsen, sobald der Wasserdruck Schwankungen unterläge. Dieser Zusammenhang wird in dem Artikel "Bewegungs- und Zielorientierung" weiter ausgeführt. 

Noch eine Anekdote zur Verstetigung des Wurfes: Dartspielern wird geraten, bei ihren ersten Würfen nicht zu zielen, ja, den Blick sogar von der Scheibe abzuwenden. Absurd? So soll erreicht werden, dass ein Spieler einen lockeren Wurf findet, den er standardmäßig einsetzt. Das bewusste Zielen stört das lockere Werfen und macht Treffer anfangs nahezu unmöglich. 

[3] Die Fähigkeit des Unterbewusstseins, die Wurfparameter jeweils anzupassen, geht so weit, dass sogar dann ein Ausgleich stattfindet, wenn aufgrund einer auftretenden Unzulänglichkeit einer der Parameter nicht erreicht wird. Der andere Parameter wird dann schnell entsprechend angepasst. Diese als Kovariaton bezeichnete Gabe des Menschen - also das unbewusste, gleichzeitige Anpassen mehrerer Parameter - ist die eigentliche Ursache für die immer wieder beobachtbare Präzision, derer der Mensch beim Werfen fähig ist. Ein Spieler kann sich ihrer jedoch nur dann umfänglich bedienen, wenn er vollständig von der Notwendigkeit überzeugt ist, den Wurf nicht aktiv steuern zu dürfen. Er muss wissen, dass er nur die Möglichkeit hat, den Treffer zuzulassen, oder zu scheitern. Hierzu muss er sich selbst vollständig vertrauen. Mit diesem Phänomen beschäftigt sich der Artikel: "Der Wurf aus wissenschaftlicher Sicht".

Dieser Artikel ergänzt das Kapitel:"Drei Phasen des Tireurtrainings

Die Artikel "Zügig abschließen" und "Der richtige Zeitpunkt" beschäftigen sich ebenfalls mit dem Zielen im Pétanque.


 

Anmerkung: Dieser Artikel wurde von Darts1.de - Deutschlands größter Dartsseite - für eine Kolumnenreihe übernommen:  https://www.darts1.de/kolumnen/darts-und-petanque.php